Brunetti View 2 - 2023

Stagnierende Wirtschaft und boomender Arbeitsmarkt – wie kann das gehen? Lesen Sie mehr über die Einschätzungen unseres Makroökomischen Beraters Prof. Dr. Aymo Brunetti in der neusten Ausgabe der Brunetti View.

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Veröffentlicht: 27. November 2023

Stagnierende Wirtschaft – boomender Arbeitsmarkt

Die aktuelle Wirtschaftslage ist bemerkenswert und ungewöhnlich. Betrachten wir die Wachstumsraten und die Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, dann befinden wir uns in den meisten Industrieländern in einer länger anhaltenden Stagnation, zum Teil gar in einer Rezession. Nach dem Auslaufen der Pandemie beobachteten wir zunächst sehr hohe Wachstumsraten, die einige Quartale ein geradezu boomartiges Aufholen signalisierte. Danach flachte sich die Entwicklung aber rasch ab und in den meisten Ländern, inklusive der Schweiz zeichnete sich eine Industrierezession ab. Der Einkaufsmanagerindex der Industrie liegt heute überall im tiefroten Bereich, was keine rasche Verbesserung signalisiert. Dass wir – mit Ausnahme von Deutschland – nicht überall in Rezessionen sind, ist einzig den nach wie vor leicht expandierenden Dienstleistungssektoren zu verdanken. Ein so deutliches Auseinanderklaffen der Industrie- und der Dienstleistungskonjunktur ist schon für sich einmal ungewöhnlich. Wirklich verblüffend ist aber der Blick auf die Arbeitsmärkte. Dort sieht man nicht nur absolut keine Rezessionssignale, sondern die Entwicklung scheint zum Teil geradezu euphorisch. Und diese Diskrepanz von Wachstums- und Arbeitsmarktentwicklung, kombiniert mit der nach wie vor ungemütlich hohen und dynamischen Kerninflation, macht die Aufgabe für die Zentralbanken besonders schwer.

Wir wollen im Folgenden diese spezielle Arbeitsmarktsituation erläutern und anschliessend die daraus resultierenden besonderen Herausforderungen in der Inflationsbekämpfung analysieren.

 

Der Arbeitsmarkt im Bann eines strukturellen „Schocks“

 

Die Abbildung zeigt für eine Reihe von Ländern die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den letzten beiden Jahrzehnten. In den Boomjahren vor der Grossen Finanzkrise war die Arbeitslosenquote überall am Sinken und stieg dann im Gefolge der Krise bis etwa 2010 mehr oder weniger deutlich an.

Spätestens seit dem letzten Aufbäumen der Eurokrise beobachten wir in allen betrachteten Ländern einen langanhaltenden Rückgang der Arbeitslosigkeit, der nur vorübergehend durch die Grosse Pandemie von 2020 unterbrochen wurde. Der extreme pandemiebedingte Anstieg in den USA, der in der Abbildung im Vergleich mit den anderen Ländern augenfällig heraussticht, demonstriert im Übrigen die massiven Kosten einer wenig ausgebauten Arbeitslosenversicherung inklusive des Fehlens einer Kurzarbeitsentschädigungsregel; die Existenz solcher Institutionen dämpfte den Anstieg der Arbeitslosigkeit in den betrachteten europäischen Ländern deutlich ab. Besonders verblüffend an der Abbildung ist aber der Blick an den aktuellen Rand. Trotz seit mehreren Quartalen stagnierendem Wirtschaftswachstum sind die Arbeitslosenquoten in allen betrachteten Ländern heute ausserordentlich tief, in einigen Fällen sogar tiefer als in den Boomjahren vor den beiden epochalen globalen Wirtschaftskrisen. Normalerweise würden die Arbeitslosenquoten spätestens nach zwei Stagnationsquartalen deutlich anzusteigen beginnen; davon ist aber noch kaum etwas zu sehen. Die minimen Anstiege in den USA und Grossbritannien starten von rekordverdächtig tiefem Niveau.

Würden wir diese Entwicklungen nur in einzelnen Ländern beobachten, dann könnte man dies auf spezifische wirtschaftspolitische Entwicklungen – etwa Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt – zurückführen. Die Tatsache aber, dass so gut wie alle OECD-Länder zurzeit die gleiche spezielle Konstellation auf dem Arbeitsmarkt erleben, spricht für einen gemeinsamen „Schock“. Und es ist nicht schwer, diesen auszumachen. In so gut wie allen Industrieländern gehen zurzeit die bevölkerungsstarken Jahrgänge der Babyboomer in die Pensionierung. Da die nachkommenden Kohorten von Jahrgängen deutlich kleiner sind, bedeutet dies, dass derzeit überall deutlich mehr Ältere aus dem Erwerbsleben ausscheiden als Jüngere in den Arbeitsmarkt eintreten. Netto sinkt damit die inländische Erwerbsbevölkerung zurzeit in den meisten Ländern. Da dieser Prozess noch einige Jahre andauern wird, wird uns der Arbeitskräftemangel – über den heute die allermeisten Branchen klagen – noch einige Jahre beschäftigen. Er verzerrt die traditionellen Zusammenhänge zwischen Konjunktur- und Arbeitsmarktentwicklung heute und in naher Zukunft.

Die Zentralbanken fliegen auf Sicht

Grundsätzlich ist diese Situation aus Sicht der Arbeitnehmenden natürlich positiv zu bewerten. Rezessionen verlieren sehr viel von ihrem Schrecken, wenn sie nicht zu deutlich ansteigenden Arbeitslosenquoten führen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht steht diesem positiven Effekt aber die Tatsache gegenüber, dass konstante Arbeitskräfteknappheit das Wirtschaftswachstum und damit den Einkommensanstieg deutlich bremsen kann.

Wir wollen uns hier aber auf die kurzfristigen, konjunkturellen Aspekte und dabei vor allem auf die gerade für die Börsen zentrale Frage konzentrieren, wie sich diese Situation auf die aktuell ohnehin geforderte Geldpolitik auswirkt. Wie wir in den vergangenen „Views“ festgestellt haben, hatte der starke Inflationsanstieg nach der Pandemie die Zentralbanken auf dem falschen Fuss erwischt. Sie warteten zu lange zu, bevor sie diese Entwicklung mit restriktiver Geldpolitik einzudämmen begannen. Als sie sich dann aber zu aktiven Gegenmassnahmen entschlossen hatten, agierten die Zentralbanken sehr bestimmt. In den letzten Quartalen sind die Leitzinsen in rekordverdächtigem Tempo angestiegen. Auf der Inflationsfront zeigten sich in jüngster Zeit denn auch deutliche Erfolge aber die Kerninflation ist in den meisten Ländern immer noch auf sehr hohem Niveau und hat sich kaum zurückgebildet. Das signalisiert einen inzwischen breit abgestützten Inflationsprozess, der noch nicht genügend eingedämmt worden ist. Die grosse Frage, die vor allem auch die Finanzmärkte interessiert ist, ob mit weiteren Zinserhöhungen zu rechnen ist oder ob man gar im kommenden Jahr wieder auf fallende Zinsen hoffen kann. Und in diesem Zusammenhang ist die ungewöhnliche Arbeitsmarktentwicklung für die Zentralbanken eine echte Herausforderung. Die Arbeitsmärkte scheinen nach wie vor so überhitzt zu sein, dass das Risiko eines selbstverstärkenden Inflationsprozesses hoch bleibt. In den USA kommen heute auf eine arbeitslose Person 1.5 offene Stellen. In Deutschland und der Schweiz ist es nicht so extrem, aber auch hier ist die Anzahl offener Stellen pro Arbeitslosen auf historisch ziemlich hohem Niveau. Ebenso wie die hartnäckig überhöhte Kerninflation deutet diese Arbeitsmarktkonstellation darauf hin, dass Lohndruck nach oben besteht und damit die Gefahr der von der Geldpolitik gefürchteten Lohn-Preis-Spiralen nicht gebannt scheint.

Die Signale auf dem Arbeitsmarkt würden heute eigentlich dafür sprechen, die Leitzinsen noch etwas zu erhöhen. Die wichtigen Zentralbanken haben inzwischen aber alle eine als solche deklarierte Pause in Sachen Zinserhöhung eingelegt. Wegen der ungewöhnlichen Konstellation, die wenig Rückschlüsse aus vergangenen Episoden erlaubt, basieren ihre Entscheidungen im Moment deutlich stärker auf den neusten Inflationszahlen und nicht wie sonst üblich auf längerfristigen Inflationsprognosen. Die Geldpolitik fliegt zurzeit also sozusagen auf Sicht. Dabei interessiert vor allem die Frage, ob die nächsten Monate einen nachhaltigen Rückgang der Inflation bringen und damit die Realzinsen (also die Zinsen bereinigt um die Inflation), die heute immer noch sehr tief erscheinen, auf eine vernünftige Höhe ansteigen. Ist das nicht der Fall, dann wären weitere Erhöhungen der Leitzinsen angebracht.

Die Inflations- und vor allem die Kerninflationsentwicklung der nächsten Monate werden also entscheidend dafür sein, ob der Zinsgipfel wirklich erreicht ist. Beinahe ebenso wichtig und eng damit zusammenhängend sind die Signale aus den Arbeitsmärkten; ohne eine gewisse Abkühlung – das heisst letztlich moderat steigende Arbeitslosenquoten – dürften Zinssenkungen noch relativ weit in der Zukunft liegen.

 

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Verantwortlich

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Ökonom, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Bern

Sybille Wyss
Chief Executive Officer
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