Brunetti View November 2024
Veröffentlicht: 05. November 2024
Die Staatsverschuldung rückt zunehmend ins Scheinwerferlicht
An der generellen Wirtschaftslage hat sich seit der letzten Einschätzung vor einem halben Jahr wenig geändert. Nach wie vor ist in den meisten für die Schweiz relevanten Ländern die Industrie in einem langanhaltenden Formtief, aber die Dienstleistungen entwickeln sich genügend dynamisch, um zumeist Rezessionen zu verhindern. Deutschland ist immer noch das Sorgenkind der grossen europäischen Länder mit inzwischen schon recht langen rezessiven Tendenzen. Und die generellen Aussichten haben sich auch nicht wesentlich geändert. Auch in der neusten Prognose von Mitte Oktober geht der Internationale Währungsfonds (IWF) von einem moderaten Wachstum der Weltwirtschaft im laufenden und im kommenden Jahr aus. Bemerkenswert ist nach wie vor die offenkundige Diskrepanz zwischen einer glanzlosen Wirtschaftsentwicklung und boomenden Arbeitsmärkte. Positiv zu vermerken ist, dass sich die Inflation in den meisten Ländern weiter zurückgebildet hat und die Inflationsraten in Bereiche fallen, in denen von Preisstabilität gesprochen werden kann. Die Wachstumsprognosen für die Schweiz sind etwas höher als für den Euroraum, bleiben aber dennoch auch fürs 2025 unter dem langjährigen Durchschnitt.
Einige Fragezeichen wirft in meiner Einschätzung die Wirtschaftsentwicklung in den USA auf. Vordergründig sieht sie vergleichsweise positiv aus; das Wachstum dürfte in diesem und im nächsten Jahr deutlich über demjenigen der grossen europäischen Länder liegen. Und auch die Inflationsrate hat sich von sehr hohem Niveau startend inzwischen doch deutlich zurückgebildet. Sieht man aber etwas genauer hin, ist die Lage doch etwas weniger rosig. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern kühlt sich die Wachstumsdynamik gemäss den Prognosen im 2025 verglichen mit 2024 ab. Und die Kerninflation (Inflation aller Güter abzüglich der besonders volatilen Kategorien Energie und Nahrungsmittel) hat sich zwar zurückgebildet, bleibt aber nach wie vor deutlich über 3%; das spricht nicht dafür, dass die Inflationsdynamik bereits nachhaltig gebrochen ist. Vor allem aber gilt es bei der Beurteilung der USA zu berücksichtigen, dass die Fiskalpolitik in den letzten Jahren massiv expansiver war als in der Vergangenheit und in vergleichbaren Ländern. Das hat die Wirtschaftsentwicklung wohl so stark gedopt, dass die vergleichsweise rosigen Wachstumsraten etwas relativiert werden müssen. Zudem führte und führt dies zu einer langanhaltenden Überstimulierung der Wirtschaft, was wohl der Hauptgrund für die nach wie vor höhere Inflationsdynamik sein dürfte. Vor allem aber schafft die dauernde fiskalische Stimulierung massive Budgetdefizite und damit eine laufende Neuverschuldung der US-Staates. Und – wenn man die Verlautbarungen beider Kandidaten für die Präsidentschaft zum Nennwert nimmt – dürfte diese jeder Nachhaltigkeit spottende Fiskalpolitik in den kommenden Jahren weitergehen. Spätestens dann dürfte das Thema der Staatsverschuldung, an der Spitze der weltwirtschaftlichen Risiken ankommen. Wir wollen die Situation deshalb etwas genauer ansehen.
Globale Staatsverschuldung im starken Aufwärtstrend
Die USA sind, was die Schuldendynamik angeht, zwar ein besonders drastischer Fall aber keineswegs eine Ausnahme. Seit der Grossen Finanzkrise sind die globalen Staatsschulden stark überproportional angestiegen. Das sieht man in der Abbildung. Sie zeigt die Entwicklung der staatlichen Schuldenquoten für eine Auswahl von wichtigen Industrieländern in den letzten knapp 30 Jahren und die Prognosen des IWF. Deutlich zu sehen sind die Auswirkungen der beiden globalen Wirtschaftskrisen. Waren die Schuldenquoten bis 2008 noch relativ konstant, begannen sie mit der Grossen Finanzkrise stark anzusteigen. Danach beruhigte sich die Dynamik etwas, bevor 2020 mit der Grossen Pandemie ein erneuter Sprung nach oben erfolgte und die Quoten in neue Rekordhöhen beförderte.
Zwei Länder stechen hier etwas hervor. Einerseits Italien, das im Gegensatz zu den anderen betrachteten Ländern bereits zu Beginn der Periode 1995 eine Schuldenquote von deutlich über 100% aufwies; Italiens Schuldenprobleme entstanden eindeutig nicht in den letzten 30 Jahren, sondern in den Jahrzehnten zuvor. Andererseits natürlich die Schweiz. Zu Beginn der betrachteten Periode wies unser Land eine Schuldenquote auf, die in etwa auf dem gleichen Level lag wie in den Vergleichsländern. Ab 2005 veränderte sich aber die Dynamik völlig. In den letzten gut 20 Jahren war die Schuldenquote der Schweiz rückläufig. Die Finanzkrise sieht man in deren Verlauf gar nicht und die Pandemie nur mit einem leichten Anstieg, der deutlich weniger ausgeprägt war wie im Ausland. Heute liegt die Schuldenquote der Schweiz deutlich unter derjenigen der Vergleichsländer. Der Hauptgrund für diese erfreuliche Entwicklung war die Einführung der Schuldenbremse, die unser Land zu einem über die Konjunkturzyklen hinweg ausgeglichenem Haushalt zwingt. Da damit die Schulden stabilisiert werden und das BIP weiter wächst, führt das zu dem tendenziellen Rückgang der Schuldenquote, den wir in der Abbildung deutlich erkennen.
Abbildung: Staatsschulden in % des BIP
Auffallend ist in der Abbildung aber auch die bereits angesprochene Entwicklung in den USA. Sie hatte in den letzten Jahrzehnten den stärksten Anstieg der Staatsschulden. Vor allem aber beunruhigt hier die Zukunft. Die Abbildung enthält jeweils auch die Prognose des Internationalen Währungsfonds, und zwar in Form gepunkteter Linien am aktuellen Rand. Als einziges der betrachteten Länder ist für die USA für die kommenden Jahre ein Anstieg ausgewiesen. Auch ohne dass hier von weiteren Krisen ausgegangen wird, wächst die US-Schuldenquote weiter deutlich an.
Risiken aus dem Schuldenanstieg
Es gibt keine wissenschaftlich erhärtete, klar etablierte Obergrenze, ab der eine Schuldenquote problematisch würde. Steigt die Quote aber über längere Zeit an, dann ist das in der Regel ein Zeichen für eine nicht-nachhaltige Staatsfinanzierung und das deutet auf Reformbedarf hin. Das kann länger dauern und der Zeitpunkt der Korrektur ist schwer zu prognostizieren. Unmittelbar spürbar sind aber die Kosten für den Zinsendienst. Steigen die Staatsschulden an, so muss ein immer grösserer Teil der Staatseinnahmen für Zinszahlungen verwendet werden und fehlt für die Finanzierung anderer Zwecke. Die USA etwa hat lange Zeit deutlich weniger als 10% der Steuereinnahmen für den Zinsendienst aufgewendet. Geht die Verschuldung im gleichen Tempo weiter, so werden es in zehn Jahren bereits 20% sein und bis 2050 gar ein Drittel. Und das geht davon aus, dass die Zinsen unverändert bleiben. Je höher die Verschuldung aber ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Zinsen anzusteigen beginnen, wenn nämlich die Schuldner für das Risiko (teilweiser) Zahlungsausfälle entschädigt werden wollen. Geht ein solcher Prozess los, dann kann einem Land im Extremfall der Staatsbankrott drohen.
Die USA ist in der beneidenswerten Ausgangslage, dass sie sich in ihrer eigenen Währung im Ausland verschulden kann. Es dürfte hier also länger gehen, bis mit derartigen Zinsaufschlägen zu rechnen wäre. Würden aber US-Staatsanleihen ihre Rolle als „Safe Assets“ einbüssen, dann wäre mit massiven globalen Finanzturbulenzen zu rechnen. Es ist deshalb zu hoffen, dass Sorgen um die Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung in der wirtschaftspolitischen Debatte der USA bald wieder den verdienten Stellenwert erlangen werden. Eine Korrektur des aktuellen Kurses wäre überfällig.
Verantwortlich
Prof. Dr. Aymo Brunetti
Ökonom, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Bern
Sybille Wyss
Chief Executive Officer
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